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«Mach einfach deinen Schritt!»

Ein Text über Eigenverantwortung





Neulich liess ich mir bei Illona die Haare schneiden. Passenderweise müsste ich hier eigentlich schreiben, neulich habe ich mir bei meiner Coiffeuse eine kleine Auszeit gegönnt. Denn zum Programm gehört nicht nur das Haareschneiden sondern auch das Kämmen der Haare, eine ausgiebige Kopfmassage und gute Gespräche. Aber darum soll es in diesem Text nicht gehen. In diesem Text soll es darum gehen, warum es lohnenswert und für alle Beteiligten angenehmer ist, wenn wir aufhören, Verantwortung für andere zu übernehmen und uns stattdessen ganz um uns selbst kümmern. Eine Tatsache, die anhand folgender Geschichte ganz offensichtlich wird:


***


Illona und ihr Tanzpartner waren gemeinsam im Salsa-Unterricht und irgendwie schien so gar nichts zu klappen, ständig fielen sie aus dem Takt, traten sich auf den Füssen herum und selbst mit den einfachsten Figuren klappte es an dem verflixten Abend so gar nicht. Die Stimmung drohte zu kippen. Irgendwann holten sie resigniert die Tanzlehrerin zu sich und baten sie um Tipps. Diese schaute sich das Schauspiel einige Minuten an, unterbrach die beiden schliesslich, drehte sich zu Illona um und meinte mit trockener und nüchterner Mine:

«Mach einfach deinen Schritt und konzentriere dich ganz auf dich. Du kompensierst ständig für SEINE Fehler».


Aus Nettigkeit und um ihren Tanzpartner zu unterstützen und ihm zu helfen, hatte Illona seine Schrittfehler und Fehler beim Führen kompensiert, indem sie ihre eigenen Schritte kleiner oder grösser machte und manchmal einfach selbst das Führen übernahm. In tiefer — und nachvollziehbarer — Überzeugung, dass sie ihm so das Leben erleichtern würde und in der Hoffnung, das Tanzen für beide leichter zu machen. Mit dem Resultat: Chaos und Frust! Auf beiden Seiten.


Eine Woche zog ins Land, ehe ich von Ilona eine überaus begeisterte Sprachnachricht erhielt. Sie hatte sich am Abend zuvor im Salsa-Unterricht ganz auf sich selbst konzentriert und nichts anderes als ihren eigenen Schritt gemacht und den Takt gehalten. Mit verblüffenden Resultaten. Ich zitiere:


«Miriam, es war ein unglaubliches Erlebnis! Ich habe mich einfach ganz auf mich selbst konzentriert und plötzlich ist mein Tanzpartner so richtig aufgeblüht und wurde mutig und hat Dinge ausprobiert, die er noch nie gemacht hat und wurde richtig selbstbewusst und alles hat geklappt wie am Schnürchen. Wir hatten es so lustig zusammen wie lange nicht und genossen einen super tollen und lehrreichen Abend»

Interessant: Eine Person konzentriert sich ganz auf ihre Aufgabe und macht nichts anderes als den eigenen Schritt und dadurch kann die andere Person ebenfalls ihre Aufgabe übernehmen und dabei erst noch über sich selbst hinauswachsen.


Ha, das klingt ja fast so, als würde es sich lohnen, im Alltag mehr davon zu machen und wachsam die Augen für noch mehr solcher Beispiele offen zu halten. Sich immer wieder zu fragen, wessen Verantwortung übernehme ich gerade?


Für mich bringt es diese kurze Geschichte des Lebens passend auf den Punkt: Wenn ich ständig die Verantwortung für eine andere Person trage oder meine, ich wüsste es besser und meine Hilfe ungefragt einfach gebe, beraube ich diese Person in ihrer Freiheit, ihr ganzes Potenzial zu entfalten und sich als selbstwirksam zu erleben. Nun ist es aber so, dass wir besonders dann über uns selbst hinauswachsen und uns entwickeln und uns als vollwertig erleben, wenn wir uns als selbstwirksam erleben; also Erfolge feiern können, die wir unseren eigenen Handlungen und Fähigkeiten zuschreiben.


Ein Hinweis darauf, dass du möglicherweise gerade die Verantwortung deines Gegenübers trägst, oder dein Gegenüber in seiner Freiheit und Eigenverantwortung beraubst, anstatt deine eigene Verantwortung zu übernehmen, ist, wenn du für eine andere Person entscheidest. Die Beispiele dafür sind vielzählig. So wurde mir beispielsweise letzten Sommer lang und breit erklärt, warum ich nicht als Beifahrerin auf eine 4-stündige Töfftour mitgehen möchte. Die Person hätte aber auch zum Ausdruck bringen können, warum sie nicht möchte, dass ich auf dem Sozius mitfahre. Hallo Eigenverantwortung.


Der Klassiker in Beziehungen jeglicher Art ist wohl die Aussage: «Ich kann es ihr/ihm nicht sagen. Aus Grund x oder y.» Ähä. Okay. Klingt jetzt für mich fast so, als wolltest du eigentlich nicht die Verantwortung dafür tragen, das Gespräch zu suchen (und mit den Konsequenzen zu leben) — also deinen Schritt machen (deine Aufgabe und Eigenverantwortung übernehmen).


Schade, denn aus dem eingängigen Beispiel meiner Coiffeuse wissen wir ja, wohin uns dies möglicherweise führt: Zu Frust und Chaos. Oder zu Spannungen und Konflikten

Aus der Erzählung wissen wir auch, wohin uns das Übernehmen der eigenen Verantwortung führen KÖNNTE: zu mehr Selbstwirksamkeit und Wachstum. Und zwar auf beiden Seiten.


Also, indem ich nichts ausser meiner eigenen Verantwortung übernehme, mache ich mir nicht nur das Leben leichter und einfacher, im Sinne von weniger komplex, weil ich ja nur noch meine Verantwortung trage, sondern lasse meinem Gegenüber auch Raum für sich selbst und die eigene Entwicklung, Wachstum, Selbstwirksamkeit … So weit, so brilliant. Zumindest in der Theorie. Doch wie geht das eigentlich, Verantwortung für sich selbst übernehmen? Wie sieht das in der Praxis aus? Wie machst du das?


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